- Literaturnobelpreis 1913: Rabindranath Tagore
- Literaturnobelpreis 1913: Rabindranath TagoreDer indische Dichter wurde aufgrund der »Schönheit und Frische seiner Dichtungen geehrt, die in ihrem eigentümlichen englischen Gewand Teil der schönen Literatur des Abendlands wurde«.Rabindranath Tagore (eigentlich Ravindranath Thakur), * Kalkutta 6. 5. 1861, ✝ Santiniketan (West Bengal) 7. 8. 1941; 1878-80 Studium in England, 1883 erster bedeutender Lyrikband, 1901 Gründung der Santiniketan-Universität, 1905-07 Beteiligung an der revolutionären Bewegung der indischen Nationalisten, 1916-27 Auslands- und Vortragsreisen in aller Welt, 1928 Beginn mit der Malerei.Würdigung der preisgekrönten LeistungRabindranath Tagore wurde als 14. Kind einer angesehenen bengalischen Familie geboren. Er wuchs zusammen mit seinen erheblich älteren Geschwistern und deren Familien, Dienern und Privatlehrern von der Außenwelt abgeschirmt in den riesigen Gemächern seines Geburtshauses in Joransanko auf, in dem sich heute die Rabindra-Bharati-Universität befindet. Die Isolation sollte seine späteren Werke beinflussen und den Grundstein seiner Naturliebe und seiner Sehnsucht nach dem Weiten, Freien und Geheimnisvollen in seiner Lyrik legen.»Gitanjali«Der Lyrikband »Gitanjali« (bengalisch; Liedopfer), für den Tagore 1913 den Nobelpreis erhielt, erschien 1910 zuerst in bengalischer Sprache. Er enthält 157 Lieder und Gedichte und bildet den Höhepunkt der lyrischen Schaffensperiode Tagores. Die Gedichte entstanden während einer 16 Monate dauernden Reise in die USA und nach England, zu der Tagore im Mai 1912 zusammen mit seinem Sohn und dessen Frau aufbrach. Ursprünglich waren sie nicht zur Veröffentlichung bestimmt, sondern nur als Erinnerungen gedacht.In London machte der Porträt- und Landschaftsmaler William Rothenstein Tagore mit der intellektuellen Elite bekannt. Rabindranath lernte George Bernard Shaw (Nobelpreis 1925), William Butler Yeats (1923), John Galsworthy (1932), Ezra Pound, Bertrand Russell, Evelyn Underhill und viele andere Künstler kennen. Um den englischen Bekannten eine Kostprobe seiner Lyrik zu geben, zeigte Tagore Rothenstein die englische Übersetzung seiner Gedichte, die dieser an seine Freunde verschickte, unter anderem an Yeats. Der tiefe Eindruck, den die Gedichte allseits hinterließen, veranlasste Rothenstein und Yeats, die Gedichtübersetzungen in London herauszugeben. In seiner Einleitung schrieb Yeats: »Ich habe das Manuskript dieser Übersetzung tagelang mit mir herumgetragen und sie in Bahnhöfen, im zweiten Stock der Omnibusse und in Restaurants gelesen, und ich musste es häufig schließen, damit kein Fremder sehen sollte, wie sehr es mich bewegte. Die Gedanken dieser Verse [...] offenbaren eine Welt, von der ich ein Leben lang geträumt habe.«1912 erschien unter Yeats' Schirmherrschaft die englische Ausgabe von »Gitanjali«, in der Tagore von 51 seiner Gedichte des bengalischen Bandes eine ziemlich freie, rhythmische Übersetzung vornahm, der er weitere 52 Übersetzungen aus seinen anderen Lyriksammlungen hinzufügte, vor allem aus »Opfer«, »Überfahrt«, »Liederkranz« und »Kleinkind«. Er übertrug die Gedichte nicht in Versform, sondern übersetzte sie in eine melodische Prosa, die der englischen Sprache einen weichen, mystischen Klang verlieh, den die Leser als orientalisch bezeichneten. Rabindranath selbst schätzte seine Englischkenntnisse übrigens als gering ein.Die von den Upanishaden, einer Gruppe philosophisch-theologischer Texte des Brahmanismus, beeinflussten Gitanjali-Gedichte haben einen romantisch-mystischen Charakter. Sie handeln vom Zwiegespräch des Menschen mit Gott, der als geliebte Frau oder als Herr und König angesprochen wird. Die Gedichte künden von der Liebe zur Natur als Gottes Schöpfung, vom Staunen über die Allmacht Gottes und von der Trauer des Menschen über seine Unvollkommenheit. Der befremdlich anmutende, erotische Unterton der Gedichte in Verbindung mit dem philosophischen Idealismus der Upanishaden macht die besondere Faszination des Werks aus. Tagore hat viele der Lieder selbst vertont — seine Kompositionen umfassen über 2000 Lieder.Der PreisMit der Preisverleihung an Tagore überschritt das Nobelkomitee zum ersten Mal die Grenzen des europäischen und nordamerikanischen Kulturkreises. Darüber hinaus ist Tagore der erste bedeutende Lyriker, der seine eigenen Gedichte in eine Fremdsprache übersetzt hat und damit Berühmtheit erlangte. Der Vorschlag für die Preisverleihung an den in Europa relativ unbekannten Tagore wurde von einem Mitglied der Royal Society of Literature gemacht. Ein Mitglied der Schwedischen Akademie argumentierte für Tagore mit der Begründung: »Zum ersten Mal und vielleicht zum letzten Mal dürfte es uns vergönnt sein, einen großen Namen zu entdecken, bevor dieser jahrelang die Zeitungsspalten hinauf- und hinuntergewandert ist«. Aus diesem Grund wurden Carl Spitteler (Nobelpreis 1919), Peter Rosegger und Thomas Hardy hintangestellt.In Deutschland hatte ein Lektor des bekannten Kurt Wolff Verlags nach der Durchsicht des Manuskripts kurz vor der Verleihung des Nobelpreises entschieden, dass die Gitanjali-Gedichte für eine Übersetzung ins Deutsche nicht in Frage kämen. Er ließ das Manuskript nach London zurücksenden. Als ein paar Stunden später durch die Presse verkündet wurde, dass Tagore den Nobelpreis erhalten hatte, fuhr Kurt Wolff selbst zum Hauptpostamt, um das Manuskript aus den Postbergen heraussuchen zu lassen und es sodann zu veröffentlichen.Vermittler zwischen Ost und WestDie Preisverleihung bedeutete nicht nur eine Ehrung für Tagore, sie war auch eine Anerkennung der asiatischen Kultur. Für Tagore selbst war sie ein Einschnitt in sein bisheriges Leben, denn durch sie war er zum Vertreter der asiatischen Kultur geworden. Natürlich war er stolz auf die Anerkennung, doch er spürte auch bald die Nachteile des weltweiten Ruhms — den Rest seines Lebens sollte er sich nach der Unbekanntheit und damit nach der »reichen Muße« seiner früheren Tage sehnen. Der Veröffentlichung von »Gitanjali« folgten zahlreiche Übersetzungen ins Englische: Über 20 Bücher erschienen zwischen 1914 und 1921 — Theaterstücke, Erzählungen, Romane, Essaybände, Gedichtsammlungen, eine Autobiografie und mehrere Bände mit Epigrammen und Kurzprosa.Vortragsreisen ins Ausland nutzte Tagore als Vermittler und Botschafter der asiatischen Kultur und zur Sammlung von Geldern für seine »Weltuniversität« in Shantiniketan, in der er seine Ideale einer Einigung von Osten und Westen und den fruchtbaren Austausch verschiedener Kulturen verwirklichen wollte. Als Tagore 1920 während einer Reise in Amerika erfuhr, dass Mahatma Gandhi, mit dem er befreundet war, im Kampf gegen die Kolonialregierung zur Non-Cooperation Campaign aufgerufen hatte, sagte er: »Welche Ironie des Schicksals ist es, dass ich auf dieser Seite des Meeres die Zusammenarbeit der Kulturen zwischen Osten und Westen gerade in dem Augenblick predige, während auf der anderen Seite die Doktrin der Nichtzusammenarbeit gepredigt wird.«I. Arnsperger
Universal-Lexikon. 2012.